23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 3061
Geschrieben am: Dienstag 29.11.1853
 

Sie sind gewiß erschrocken wegen des dicken Briefs, den der Postbote in’s fremde Land bringt; aber es ist ein Notenbrief, der schneller zu beseitigen geht, wie ein Buchstabenbrief. Er soll sie nicht lange der Behaglichkeit der Holländer entziehen! Ich wollte Ihnen gerne die 3 Stücke mittheilen, um Ihnen, großmüthiger Mann, der Sie mich immer mit den reichsten Gaben beschenken, wenigstens eine kleine Frucht von dem Gute, das ich zum Theil durch Ihren Reichthum erworben, zukommen zu lassen, damit Sie meinen guten Willen sehen, der leider wohl das Einzige ist, was ich biethen kann. Zugleich enthält das 2te der Stücke, das eigentlich Malinconia überschrieben sein sollte, die Antwort auf das Bräutigams-Kapitel; die mit blauer Tinte accentuirten Schlußnoten F. A. E., welche schon im Verlaufe des Stückes mit 3 andern Tönen immer alterniren, haben nicht bloß künstlerische, sondern allgemein menschliche Bedeutung für mich: ihr Sinn ist „frei aber einsam“. Ich bin nicht verlobt. Menschen können sich wahlverwandt fühlen, können glauben daß sie nur für einander geschaffen wären – und doch kann eine feindliche Gewalt wie praedestinirt sich immer im Leben zwischen sie drängen. Das habe ich erfahren. Wie? Das wäre eher ein Gespräch für längste Abende, als eine Mittheilung für kürzeste Schreibemomente. Dies alles aber sage ich nur Ihnen dessen Theilnahme mich unbeschreiblich beglückt. Wollen Sie, wenn wir uns wiedersehen (was der gütige Himmel bald fügen möge!) mehr hören, so kann ich es Ihnen erzählen, aber Sie müssen mir versprechen, dann auf dem Sopha ruhig die Augenlider zu schließen, wenn Sie müde werden – und nur im Traum ein halb Gehör zu geben. – Ein Brief von Ihnen ist für Johannes und mich immer ein Fest, zumal wenn er, wie der letzte, von so herrlichen Klängen begleitet ist. Die Ergänzung der Sonate paßt prächtig in ihrer concentrirt<e> energischen Weise zu den übrigen Sätzen. Das ist jetzt freilich ein anderes Ganze! Sehr haben uns auch die Romanzen erlabt, und die 3te davon mit der tiefsinnigen Melodie und dem contrastirenden, lebhaft schalkischen Trillersatze mußten wir unwillkührlich noch einmal spielen, wie den feierlichen Adur-Satz der letzten, und überhaupt Alles mehrere Male. Wie verlangt es mich die beiden Schluß-Gesänge der Frühe einmal von Ihrer Frau zu hören! Die Göttin an welche sie gerichtet sind, hat mir aber einiges Kopfzerbrechen gekostet. Diotima! Wer ist das? Auch Johannes wußt’ es nicht zu sagen, und so müssen wir schon zu Ihnen Zuflucht nehmen, auf die Gefahr hin, daß Ihnen derjenige dabei einfällt, der seinen großen Freund frägt: „Was ist Byzanz?“ und der, ich gestehe es, nicht mein Liebling ist. Noch könnte ich Ihnen von Brahms erzählen, der von den Leipzigern mit Lorbeerbäu-men und Goldminen beschwert hierher zurückgekommen ist; es wird Ihnen aber lieber sein, wenn er selbst seine dortigen Erlebnisse mittheilt. Ohnehin habe ich wohl schon zu viel geschrieben. Nur noch die Bitte das Noten-Manuscript <mir>, wenn Sie es durchgesehen haben, wieder hieherzuschicken, und dabei zu bemerken: ob Sie zu dessen Herausgabe rathen? Möchte ich doch bald wieder von Ihnen hören in meiner Hannöverschen Einsiedelei! Ihnen und Ihrer Frau in Verehrung und Liebe ergeben
Joseph Joachim

Hannover, am 29ten Nbr 1853.

  Absender: Joachim, Joseph (773)
  Absendeort: Hannover
  Empfänger: Schumann, Robert (1455)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 2
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Joseph Joachim und seiner Familie / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Klaus Martin Kopitz / Dohr / Erschienen: 2019
ISBN: 978-3-86846-013-1
107-110

  Standort/Quelle:*) PL-Kj, Korespondencja Schumanna, Bd. 26/2 Nr. 232
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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