Wien am 24t Mai 850.
Verehrungswürdigster Freund!
Auf Ihre mir und meinen künstlerischen Bestrebungen bisher zu Theil gewordene Gewogenheit stützend, nehme ich mir die Freyheit, Ihnen mein letztes Opus – die Klagegesänge Jeremias, deren Cantus firmus ich neu harmonisirt – durch die Verlagshandlung Diabelli allhier zur gefälligen Durchsicht zu übersenden, und falls Sie diese für werth finden, mir gütigst Ihr kompetentes Urtheil durch die Leipziger Musik-Zeitung zu erbitten, auf das ich in jedem Falle stolz seyn werde, da es aus eines so geistreichen Mannes Feder nur immer belehrend und bestättigend kommen kann.
Ich verwendete daran längere Zeit sehr viel Fleiß, und suchte die Aufgabe, die ich mir |2| hier stellte, nach meinen schwachen Kräften bestmöglichst zu lösen.
In wie fern ich sie aber gelöst, und mir hierdurch vielleicht einige Achtung in der musikalischen Welt erworben, hoffe ich von Ihrem geistreichen ja unbestechlichen Kunsturtheile zu vernehmen.
Sollte es Ihnen aber nicht möglich seyn, sich mit dieser meiner Bearbeitung zu befaßen, da ich hörte, daß Sie in dem Augenblick mit den Proben Ihrer Oper, zu deren Aufführung Ihre kostbare Zeit sehr in Anspruch genommen ist, so bitte ich, wenn Sie vielleicht so gefällig seyn wollen, mein Opus der Redaction gedachter Zeitung gütigst zu empfehlen. Doch aufrichtig gestanden, würde es mich außer-|3|ordentlich erfreuen, wenn es sich Ihres Ausspruches werth finden dürfte.
Uibrigens erlaube ich mir noch zu erwähnen, daß diese Lamentationen in verfloßener Charwoche hier beifällig aufgenommen wurden, ungeachtet man sie durch so viele Jahre hindurch im alten Gewande zu hören, gewohnt war.
Indem ich Sie nur noch bitte, meine herzlichsten Grüße Ihrer Frau Gemahlin zu melden habe ich die Ehre zu seyn
Mit der vollkommsten [sic] Hochachtung
Ihr
ergebenster
Carl Georg Lickl
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