23.01.2024

Briefe



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ID: 5256
Geschrieben am: Freitag 05.06.1840
 

Herrn Dr R. Schumann in Leipzig.
Hochzuverehrender Herr,
Indem ich, als ein getreuer Abonnent Ihrer vielgelesenen Neuen Zeitschrift für Musik seit ihrem Entstehen, den Auftrag habe, Ihnen beiliegende Ausschreibung der Organistenstelle an hiesiger Stadtkirche zu übersenden und Sie zu bitten, dieselbe zweimal in Ihre Zeitschrift einrücken zu lassen, glaube ich der guten Sache zu nützen, wenn ich Ihnen Einiges über das musikalische Leben in unserm Städtchen mittheile: in der Meinung, es möchte Ihnen zweckmässig erscheinen, der Ausschreibung selbst einige Notizen folgen zu lassen, welche nicht ohne Werth für den Künstler sein dürften, der sich für die Stelle zu melden Lust hätte.
Allerdings werden meine Angaben in grellem Widerspruche mit demjenigen stehen, was die Allgem. musikal. Zeitung des Herrn Dr G. W. Fink (1838, Seite 365 & seq. Artikel „Musik in der Schweiz“) mitgetheilt hat. Der Verfasser, in Burgdorf wohnend, scheint so ganz unbekannt mit dem Musikwesen namentlich |2| der östlichen Schweiz zu sein, dass seine Nachrichten keiner weitern Berücksichtigung werth sind. Im Gegensatze zu diesem wird in No 34 des letzten Jahrganges, erster Artikel der Seite 672 unserer Liebhaber-Concerte auf lobende Weise gedacht.
Winterthur zählt etwas zu 4000 Einwohnern, was voraussetzt, dass es in der Musik Wenig oder gar Nichts zu leisten vermöge. Dass dem aber nicht so ist, darf ich mit Stolz und einiger Freude behaupten.
Es besteht hier bereits seit dem Jahre 1629 ein Collegium musicum, das wöchentliche und regelmässige Zusammenkünfte hielt, um Psalmen zu singen und leichtere Instrumentalsätze auszuführen. Leider beschlägt das vorhandene Protokoll nur den administrativ-ökonomischen Theil, so dass über die eigentlichen musikalischen Leistungen der Gesellschaft Nichts gewisses vorliegt. Diese müssen jedoch nicht ohne einigen Einfluss geblieben sein, weil sich die Stadtbehörde bewogen fand, den Mitgliedern des Collegiums, behufs der Hebung des Kirchengesanges, bestimmte Plät¬ze in der Kirche anzuweisen, ja so weit ging, im Jahre 1748 beim Bau des neuen Rathhauses der Gesellschaft einen eigenen Saal einzurichten, der auch noch gegenwärtig, in erneuter Form, als Musiksaal dient.
|3| Seit seinem Entstehen hat das Musikcollegium, das im Jahre 1629 nur 12 Mitglieder zählte, nie aufgehört, mit mehr oder weniger Eifer die Ton¬kunst zu pflegen, und veranstaltete schon am Ende des <achtzehnten> siebzehnten┐ Jahrhunderts von Zeit zu Zeit öffentliche Concerte: am Ende des letzten Jahrhundert war man <schon> im Stande, grössere Wer¬ke, wie Thirza und ihre Söhne, das Passionsoratorium von Rolle, Cora von Naumann, Graun’s Tod Jesu, das Lob der Musik von Jos. Schuster und Anderes mehr einem zahlreichen Publikum zu Gehör zu bringen. Wenn auch damals diese Tonstücke, so wie später die Haydn’schen Oratorien in Beziehung auf die Ausführung gewiss Manches zu wünschen übrig liessen, so lässt sich doch in der Auswahl der Tonwerke ein redliches Streben nach guter und classischer Musik nicht verkennen. Schon anfangs des letzten Jahrhunderts hatte die Gesellschaft angefangen, regelmässige Concerte über den Winter zu veranstalten. Oefter besuchten auch fremde ausgezeichnete Tonkünstler unser Städtchen, unter andern gaben Mozart und C. M. v. Weber hier Concert. Der in Wien beliebte Conradin Kreutzer überliess in seinen jüngern Jahren der Gesellschaft die Partituren von zwei Oratorien; „Moses Sendung“ & [„]der Triumph des Friedens“ welche beide nicht ohne Werth sind und seiner Zeit unter der eigenen Lei¬tung des Componisten mit grossem Beifall aufgenommen wurden. P. v. Winter componirte für unsere Gesellschaft einen: „Jesus Christus“, eine kleine Arbeit, die |4| dem Componisten des Timotheus und des Opferfestes keine grosse geistige Anstrengung gekostet haben mag.
Eine neue Aera begann für das hiesige Musikleben, als im Jahr 1830 die schweizerische Musikgesellschaft ihr 18tes Fest in unsern Mauern zu feiern beschloss, was um so mehr der Erwähnung werth ist, weil bis dahin das eidgenössische Musikfest ausschliesslich in den Hauptstädten der Cantone Statt gefunden hatte. Wenn auch damals bedeutende deut-sche Künstler, wie der Cellist Menter in München, der Oboist Reither in Carlsruhe für das Orchester gewonnen waren, so bleibt doch unserer Gesellschaft das Verdienst, einen Chor aufgestellt zu haben, welcher den herrlichen Pharao von Fr. Schneider auf eine Weise sang, wie sich dessen eine grosse Stadt nicht zu schämen brauchte. Nebst Pharao wur¬de auch zum erstenmal in der Schweiz die heroische Sinfonie zu Gehör gebracht. Von dieser Zeit an hörte die Gesellschaft nicht auf, im Stillen fort zu wirken und alljährlich, wie sie es seit mehr als 50 Jahren schon gethan, je von Anfang November bis Ostern, zu 14 Tagen nun, regelmässige öffentliche Concerte zu veranstalten, wobei sie jedoch aus Mangel eines guten Dirigenten, mit manchen Schwierigkeiten zu kämpfen ┌hatte┐. Endlich, im Jahre 1837, gelang es uns, Herrn Ernst Methfessel, einen äusserst thätigen jungen Tonkünstler und ausgezeichneten |5| Oboisten, für die Musikdirectorstelle zu gewinnen. Sein redlicher Eifer brachte es in kurzer Zeit dahin, unsere zerstreuten musikal. Kräfte zu vereinigen, so dass unser Städtchen gegenwärtig ein vollständiges Orchester, fast nur aus Dilettanten bestehend, und einen Chor besitzt, welche im Stande sind, sehr gelungene Aufführungen von grossen Tonwerken zu veranstalten. Ich erwähne unter diesen nur Mendelssohn’s 115ten Psalm, Cherubini’s hochberühmtes Requiem in C moll, Beethovens Christus am Oelberge, mehrere seiner Sinfonieen, und die unvergleichlichen Concertouverturen Ihres Mendelssohn.
Neben der Musikgesellschaft besteht seit 14 Jahren ein Sängerverein, der jedoch lange Zeit Nichts wesentliches zu leisten vermochte, bis Herr Musikdirector E. Methfessel sich auch an die Spitze dieses Institutes stellte, das nunmehr aller Beachtung werth ist und in der Schweiz seines Gleichen sucht.
Nachdem zur Zeit der Reformation aus unsern Kirchen die Orgeln entfernt worden waren, gelang es der Thätigkeit einiger um die Musik jetzt noch verdienten Männer, es dahin zu bringen, dass 1808 für die hiesige Stadtkirche <eine> aus einem aufgehobenen Kloster eine Orgel, die erste im Canton Zürich, angeschafft wurde. Das Werk war jedoch im Laufe der Zeit so in Abgang gekommen, dass eine Reparatur dringend nothwendig ward. Im Jahre 1836 <wurde> übernahm der rühmlich |6| <> bekannte Orgelbauer, Aloys Mooser, von Freiburg im Uechtlande, diese Arbeit. Glücklicher Weise fügte es sich, dass er noch vor seinem Tode das We¬sentliche, die Disposition und Einrichtung des Werkes, die neuen Wind¬laden, die ganz neue Mechanik, Alles auf die Windbereitung bezügliche, die Registerzüge, nebst den neuen Registern ausführen konnte, so dass seine beiden, des Vaters würdige, Söhne Moritz und Alexander die gänz-liche Umarbeitung des Werkes ohne Anstand vollenden konnten. Unsere Orgel, in der That die letzte Arbeit Moosers, steht nun fertig da, eine herrliche Zierde unserer, in ihren Verhältnissen für Musik sehr günstigen Kirche. Sie hat drei Klaviere, ein Pedal, acht Blasebälge, zählt 43 klingende Register, 3 Kuplungen, 1 Tremulant und 1 Crescendozug. Ihr Ton ist äusserst voll und kräftig, die Bässe namentlich ausgezeichnet, das Ganze von ergreifender Wirkung und die einzelnen Stimmen von seltener Anmuth & Schönheit. In Anerkennung der Verdienste der Musikgesellschaft liess die Bürgergemeinde ein geräumiges und sehr zweckmässig amphitheatralisch gebautes Orchester mit der Orgel in Verbindung bringen, um alle Gelegenheit zur Aufführung von Kirchenmusik zu geben. Binnen drei Wochen soll das Ganze eine kirchliche Weihe erhalten, bei welcher folgen¬de Werke zur Aufführung kommen werden: 1o Beethovens erste Sinfonie; 2o verschiedene mir noch unbekannte Orgelcompositionen, vorgetragen durch Herrn Musikdirector Mendel in Bern, der eigens dazu berufen wird; |7| 3o der Luther’sche Choral: „Ein’ feste Burg ist unser Gott“ für Männerstimmen mit obligater Begleitung der Orgel, 3 Posaunen & Pauken gesetzt von Herrn MDr E. Methfessel und endlich 4o der Halleluja-Chor aus Händels Messias, mit Orchester & Orgelbegleitung. Das mitwirkende Personal, sämtlich aus hiesigen Einwohnern bestehend, beläuft sich auf 120, nämlich 80 Choristen & 40 Instrumentalisten.
Um nun diese Orgel, die als ausgezeichnet genannt zu werden verdient, <sucht> <> zu spielen, sucht die Stadtbehörde einen tüchtigen jungen Mann, welchem ein jährliches fixes Einkommen von 35 Louisd’or, nebst einer gewiss nicht unbedeutenden Summe an Sporteln, die Hoffnung von überreicher Beschäftigung mit Unterricht und ein in jeder Beziehung angenehmer Aufenthalt zugesichert werden können.
Indem ich es Ihnen anheimstelle, Hochzuverehrender Herr, von dieser Mittheilung beliebigen Gebrauch zu machen, und Ihnen diese Angelegenheit, im Interesse der Kunst, aufs wärmste empfehlend, schliesse ich mit der Anzeige, dass Herr E. F. Steinacker, Buchhändler, durch welchen Sie diese Zuschrift erhalten, angewiesen ist, die allfälligen Kosten, welche dies Geschäft verursachen wird, zu bezahlen.
Unter Versicherung meiner vollkommsten Hochachtung zeichnet
Ihr ergebenster
Dr Ziegler-Sulzer.
Eidgen. Divis. Stabsarzt.
Kapellmeister der Musikgesellschaft.
Winterthur den 5 Juni 1840.
Nachschrift. Sollte es Ihnen, oder Ihrem ausgezeichneten Herrn Dr & Musikdir. Mendelssohn je einfallen, die Schweiz zu besuchen, so bittet um einen Besuch, wo immer möglich, der Obige.

  Absender: Ziegler-Sulzer, Dr., Jakob Heinrich (15360)
  Absendeort: Winterthur
  Empfänger: Schumann, Robert (1455)
  Empfangsort: Leipzig
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 10
Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Theodor Kirchner, Alfred Volkland und anderen Korrespondenten in der Schweiz / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Annegret Rosenmüller / Dohr / Erschienen: 2022
ISBN: 978-3-86846-021-6
985-991

  Standort/Quelle:*) PL-Kj, Korespondencja Schumanna, Bd. 10 Nr. 1573
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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