23.01.2024

Briefe



Rückwärts
	
ID: 5709
Geschrieben am: Freitag 13.12.1839
 

Dresden, Johannisgasse, No. 199.
Am 13. December, 1839.
Hochgeehrtester Herr!
Vielleicht tritt, wenn Ew. Wohlgeboren Sich einmal in Ihre jüngsten Jah¬re, die Ihre einstige Meisterschaft doch schon so deutlich verkündeten, zurück denken wollen, auch das Interesse Ihnen vor Augen, welches ich stets an der Tonkunst genommen. Wie bei Ihnen selbst, so auch bei mir hat es schon als achtjährigem Kinde so bleibende Wurzel gefaßt, daß noch heute seine Lockung die einer jeden andern Kunst oder Wissenschaft in meinem Herzen übertönt. Dieser Stimme folgen zu können, vergönnte der Himmel Ihnen zum wahren und großen Gewinne für die Kunst; nicht so mir bei einem weit minderen Maasse musikalischen Talentes und bei meinen nicht günstigen Familienverhältnissen. Beides zog meiner Lust an der Musik eine enge Sphäre, erfüllt theils vom blosen Hören des Schönen (dem ich mit Ausnahme weniger Jahre vermöge meines Aufenthaltes eifrig nachhängen konnte), theils vom Studium der Musik-Geschichte, welchem ich schon früher, besonders aber allhier eifrigst obgelegen habe: hier, wo ihr, besonders in der Königlichen Bibliothek, so reiche Quellen fliessen. Bedenke ich nun den Ernst, mit welchem Ew. Wohlgeb., erhaben über der Lust an einem augenblicklichen Ohrenkitzel und bloser mechanischer Fertigkeit, die Kunst ergriffen haben, und eben deßhalb auch ihrer wis¬senschaftlichen Hälfte ihr Recht gern lassen, ja vielmehr diese selbst so treulich gefördert und angebaut haben: so kann es Ihnen kaum zuwider¬seyn, wenn ich von den Ergebnissen meiner musikgeschichtlichen Bemü¬hungen – welchen freilich stets nur meine Mussestunden geweihet werden konnten – das Wichtigere Ihnen hier angebe.
Längst schon fühlte ich das Unbehilfliche des so verdienstvollen Ger¬berischen Lexikons der Tonkünstler, wie das Bedürfniß, theils es bis zur Gegenwart wieder einmal fortzuführen, |2| theils es auch für die frü¬heren Jahrhunderte zu vervollständigen. Walther nämlich, auf welchen Gerber hinsichtlich jener Jahrhunderte fußt, wählte zu seiner Basis die Draud’sche Bibliotheca classica, aber in einem der ungleich zahlreicheren Exemplarien, welchen die (selbst auf vielen grossen Bibliotheken umsonst zu suchenden ) Supplemente fehlten. In diesen aber finden wir nicht nur gar viele Tonsetzer des 16. und frühern 17. Jahrhunderts, welche in Ger¬ber fehlen, sondern, was noch wichtiger ist, fast zahllose Werke solcher Meister noch nachträglich genannt, die an sich zwar im Hauptwerke vor¬kommen. So erklärt es sich, daß Gerbern eine Menge des Wissenswür¬digen aus jenen Zeiten unbekannt geblieben ist. Betrachten wir z. B. den wahren Begründer des theoretischen Theiles deutscher Tonkunst, den Michael Praetorius, so erstaunen wir zwar über die Masse von Schriften sowohl, als Tonwerken, welche Gerber von ihm aufführt; dennoch aber sind diese kaum 2/3 von allen, wie sie sich mit Zuziehung der Draudischen Supplemente ergeben.
Es ist aber auch nicht minder gewiß, daß Gerber theils eine gewaltige Menge überflüssiger Namen, theils bei einigen Meistern eine wahre Fluth von Notizen und Herzensergiessungen giebt, während er doch andrerseits nicht selten über wahrhaft große Männer, wie z. B. über beide Gabrie¬li, soviel als nichts sagt. Diese Unverhältnißmässigkeit hat mir von jeher mißfallen. Da ich jedoch an ein öffentliches Auftreten nicht dachte, son¬dern nur zur eignen Belehrung und Ergötzung forschte, so begnügte ich mich lange mit blosen Nachträgen in ein durchschossenes, alphabetisch geordnetes, aber freilich sehr dürftiges und der Sachkenntniß entbehren¬des Büchlein, das Raßmannische Pantheon der Tonkünstler. Zuletzt sah ich wohl das Unzulängliche solchen Beginnens ein, und machte mir aus dem Gerber einen Auszug, wobei ich mich lediglich an die Tonsetzer hielt, unendlich viel Ueberflüssiges hinwegließ, aber auch nach Verhältniß gewiß sehr viel dort Mangelndes einfügte, und im Allgemeinen das Werk bis in unsere Tage herab fortführte, wobei die musikalische Zeitung freilich mir die Hauptquelle war, aber auch andere und selbst die Correspondenz eifrig benutzt wurde. So gestaltete sich ein Werkchen, das in einem mässigen Bande denjenigen Bedürfnissen allen, wie ich glaube, entgegenkommen würde, die der Musikfreund, sofern er nicht selbst wieder |3| über Mu¬sikgeschichte schreiben will, und sofern die Rede blos die Tonsetzer mit ihren Leistungen trifft, fühlen könnte. Da diesen meinen Arbeiten aber nur die Mussestunden vorbehalten bleiben, so kam dazwischen das Schil¬lingische Werk, welches zwar eine unendlich umfassendere und selbst in der Darstellung bedeutend andere Tendenz hat, als mein Büchlein, aber – obgleich in Nennung der wirklich nennenswerthen Namen auffallend ärmer (denn im A allein nennt das meinige über 100 ehrenwerthe Tonset¬zer mehr, als Schilling) – denoch meinem Hervortreten in den Weg trat.
Gleichwohl achte ich meine Bemühungen keineswegs für verloren. Einerseits könnte ich leicht willkommene Zugaben zum Schilling machen, sofern nur Zeitschriften, wie die so ausgezeichnete Ihrige, sich ihnen öff¬nen wollten; anderntheils hatte ich meinem Buche Beigaben zugedacht, die nach meinem Ermessen garnicht unwerth sind, nun detachirt zu er¬scheinen. Ausser meinen erfolgreichen Forschungen in der Literatur der älteren Choralbücher (woran, soviel das 15te, 16te und 17te Jahrhundert betrifft, die hiesige Bibliothek auf Erden wohl die reichste ist) erwähne ich hier vorzüglich meine geistig-genealogischen Componisten-Tafeln, de¬ren Idee gänzlich mein Eigenthum ist, wie sehr man sich auch wundern muß, daß bisher Niemand sie faßte oder ausführte. Nach der Weise der genealogischen Familientafeln ordnete ich die Tonsetzer so, daß ich immer vom Lehrer auf seine Schüler herab fort ging. Eine Arbeit, die wohl beim ersten Anblick leicht erscheint, dazu aber die Materialien höchst mühsam und zum Theil aus Büchern, die übrigens der Musik gänzlich fremd sind, auch zum Theil durch Correspondenz gesammelt werden mußten, wor¬über mir wohl 6 – 7 Jahre verflossen sind. Gewiß würde, wer schnell etwas Aehnliches liefern wollte, nur höchst Unzureichendes bewerkstelligen. Manchen Stein zum Gebäude danke ich, direct oder mittelbar eingeholt, der Theilnahme kundiger Männer, p. E. eines Rochlitz, Spohr, Fr. Schnei¬der, G. Schneider, Marschner, Dotzauer u. a. M. –. Sind auch einige der 30 – 33 Tafeln ganz klein, weil sich über des Ahnen eignen Lehrer im Satze (es hat ja auch mancher Meister nie einen gehabt, wie z. B. Marschner) durchaus nichts auffinden läßt, so sind dagegen schon die Nachkommen¬schaften eines Greco und Lotti, noch mehr eines Martini und Tartini sehr bedeutend; ungleich stärker die von Carissimi oder Scarlatti. Aber auch diese verschwindet gänzlich neben der Haupttafel, welche mit Ockeghem, dem Patriarchen unserer Musik, vor 400 Jahren anhebt, im H. Schütz sich zum zweiten male concentrirt, |4| den Herzischen Schüler Fissont in Paris zum Nesthäkchen hat, und, wenn man die ihr fremden Familien eines Hofhaimer, Kuhnau, Fux, Haydn, Mozart und Albrechtsberger ausnimmt, so ziemlich alle grosse Tonsetzer der Deutschen begreift. Von ihrem Reichthume giebt der Eine Umstand ein Bild, daß allein der Eine Zweig, der mit S. Bach beginnt, eine grosse Tafel füllen würde, wie er denn allein 36 eigne Schüler von S. Bach nennt. Um Ihnen die Einrich¬tung der Tafeln anschaulich zu machen, lege ich hier in Abschrift eine klei¬nere, nämlich die des Greco, bei. Würden die Tafeln gedruckt, so könnte dieß freilich nicht ohne einen kleinen Commentar geschehen.
Ein zweites Hauptergebniß meiner Forschungen ist eine Zusammen¬stellung von Biographien aller Dresdener Tonsetzer ohne die noch jetzt hier wohnenden. Diese Reihenfolge von 180–190 (zum Theil unüber¬troffen-grossen) Meistern und Kleinmeistern beginnt mit Heinrich dem Erlauchten, über dessen Hierhergehörigkeit ich dem Prinzen Johann selbst einen urkundlichen Beweis verdanke, und welcher, wie leicht zu er¬achten, nebst so manchem andern bei Gerber fehlt. Nach dem, als Erfin¬der des Maccaronischen Chorales bekannten Petrus Dresdensis vor 400 Jahren folgt nun freilich eine Lücke bis auf den berühmten Johann von Cöln vor 300 Jahren; aber mit Walther beginnt dann eine nicht wieder unterbrochene Reihe, welche mit Marschner und F. A. Mayer schließt. Wenn nun die geringeren Glieder dieser (in Europa seltenen) Kette na¬türlich nur kurz behandelt werden mußten, so gaben dagegen ein Wal¬ther, v. Hasler, M. Prätorius, H. Schütz, Ch. Bernhardi, Heinichen, Lotti, Zelenka, beide Graun, ein Porpora, Hasse, Homilius, Friedemann Bach, Selbst Durante könnte nicht gänzlich übergangen werden, da er sich 3 Jahre lang heimlich in Dresden aufgehalten, gewiß nicht ohne Einfluß auf seine göttlichen Werke. Schürer (einer der größten Meister seiner Zeit, und doch im Publicum fast unbekannt), Naumann, Schuster, Seydel¬mann, Weinlig, Himmel, Paer, Fri. Schneider, v. Weber und Marschner, desto mehr zu sprechen. Natürlich schenkte ich den Werken der Meister eine besondre Aufmerksamkeit, am meisten denjenigen älteren, die noch aufgeführt werden. Es fehlen daher nicht detaillirtere Nachrichten über Schützens Psalme, Zelenka’s Miserere und seine Erstlingsmisse von 1712, Hasse’s Einweihungsmisse von 1754 (ein Werk, das weit mehr, als seine 118 Opern, jetzt noch, Beachtung verdient), sein Tedeum und sein königliches Requiem, über beide Schürer’sche Requiems und seine unvergleichliche Christmettenmusik, über Schusters Stabat und Miserere, über Seydelmanns unschätzbares Requiem, das auch neben dem Mozartischen mit Ehren besteht; besonders aber über die Werke Naumanns, als des Tonsetzers, der nächst Mozart meinem Herzen am nächsten steht, und in welchem, wie in diesem Göttlichen die Oper und in Beethoven das |5| Concert, so die Kirche hinsichtlich der Musik ihren Culminationspunct erreicht hat. Auch seine Biographie stattete ich mög¬lichst – zum Theil selbst aus dem Munde noch lebender Naumannischer Schüler – reich aus, und vielleicht steht die Hälfte von dem, was ich über N. sage, nicht in Meissners Werken.
Ich habe auch die jetzt lebenden Tonsetzer nach ihren Wohnorten zusammengestellt: eine Idee, über deren Neuheit man sich wohl wundern möchte, da sie gewiß vielen Musikfreunden zusagen muß. Hierbei ging ich möglichst vollständig zu Werke, so daß p. E. auf Paris über 80, auf Wien auch beinahe soviele Tonsetzer kommen. Sollte nicht ein Abdruck davon in Ihre treffliche Zeitschrift passen? und auch wohl der Abdruck von gar manchem Abschnitte dessen, was ich früher besprach? Ihre Bejahung vorausgesetzt, müßte ich freilich bei meiner beschränkten Lage sogleich die zweite Frage beifügen: ob nach Ihrer Einrichtung auch Honorare ge¬ben werden? Denn wenn auch meine Forschungen an sich meine eigne Lust und Belehrung bezweckt haben, so erfordert doch deren Mittheilung Zeit und mancherlei Bemühung. Könnte aber Ihre gütige Vermittelung nicht auch, wegen Herausgabe eines der besprochenen Werke oder Werk¬chen, mir einen Verleger gewinnen? Ein Wort aus so geachtetem Munde wirkt oft viel! – Endlich noch finde ich kein Bedenken gegen die Anfrage, ob ich mich dürfe Ihrer Zeitschrift als Correspondenten anbieten? Nicht als wollte ich irgendwen verdrängen, – davon bin ich fern; aber ich glaube: wenn ein Zeitblatt Parteilichkeit und Einseitigkeit vermeiden will, so kann es mehrere Correspondenten in einer Hauptstadt (und das ist ja Dresden Jahrhunderte hindurch für die Musik gewesen, und behauptet noch sei¬nen Rang) um so weniger entrathen, als eben in solchen insgemein viel Cliquenwesen herrscht, davon ich aber mich stets frei gehalten zu haben glaube; somit brauche ich weder das Schlimme, noch das Gute, auf ir¬gendeiner Seite zu bemänteln.
Von Ihrer Gewogenheit, zu welcher ich mich bestens emphehle, hof¬fe ich zuversichtlich Nachricht, vielleicht auch mancherlei guten Rath in einer Sphäre, die Ihnen ja selbst die Ihres Wirkens ist, und nenne mich, wahrer Hochachtung voll,
Ew. Wohlgeboren
ganz ergebensten
Albert Schiffner.

  Absender: Schiffner, Christian Albert (1340)
  Absendeort: Dresden
  Empfänger: Schumann, Robert (1455)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 22
Robert und Clara Schumann im Briefwechsel mit Korrespondenten in Dresden / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Carlos Lozano Fernandez und Renate Brunner / Dohr / Erschienen: 2021
ISBN: 978-3-86846-032-2
441-448

  Standort/Quelle:*) PL-Kj, Korespondencja Schumanna, Bd. 9 Nr. 1427
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 

Fehlerbeschreibung*





Wir verwenden Cookies, um Ihnen den bestmöglichen Service zu gewährleisten (Mehr Informationen).
Wenn Sie auf unserer Seite weitersurfen, stimmen Sie bitte der Cookie-Nutzung zu. Ich stimme zu.