23.01.2024

Briefe



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ID: 9633
Geschrieben am: Dienstag 18.09.1866
 

Baden d. 18 Septbr. 1866
Lieber, verehrter Lewinsky,
diese Zeilen sollen Ihnen am 20ten mit dem schönsten Gruße auch meine innigsten Wünsche darbringen. Der Himmel erhalte Ihnen die wundervolle geistige Krafft mit der Sie so Herrliches schaffen, und lasse auch den Körper immer willig dem Geiste dienen. Ich möchte Ihnen wohl manches Herzliche mehr sagen, doch ein inniger Händedruck sagt es, denke ich, besser, als Worte aus ungeschickter Feder.
|2| Für Ihren lieben Brief im July meinen schönsten Dank. Daß er mich tief bewegt, werden Sie glauben, Ihr Leiden um das arme Vaterland kann ich so ganz mit empfinden, und wie oft haben wir in diesem traurigen Sommer all unserer lieben Freunde in Wien mit Schmerz gedacht. Gott weiß, wie noch Alles werden wird! Lange hörten wir nichts aus Wien, freilich wohl lag die Schuld an mir; ich hatte in den letzten Monaten eine Arbeit vor, die meine ganze Zeit so in Anspruch nahm daß ich zu keiner Correspondenz kam. Ich habe nämlich ein Tagebuch, welches mein Vater an meinem 5ten Geburtstag begann; und ich, sobald ich denken konnte, |3| fortführte durch mein ganzes Leben hindurch. Die letzten sechs Jahre nun war ich durch meine vielen Reisen nur zu ganz kurzen Notizen gekommen. Lange kämpfte ich mit mir, ob ich’s ganz aufgeben, oder ordentlich nachholen sollte. Geb ich es auf, so war mir, als sollte ich meinem Herzen einen treuen Lebensgefährten rauben, und so entschloß ich mich diese sechs Jahre nachträglich auszuführen, und hatte wirklich vor einigen Tagen die Freude es zu vollenden; aber es hat eben so viel, oder wohl mehr noch, moralische als physische Kräffte gekostet, denn ich habe mit den Freuden dieser Jahre auch die Leiden wieder durchlebt, und das war schwer.
|4| Der Sommer war leider sehr schlecht, so daß wir die Natur weit weniger genießen konnten als sonst. In meinem Hause aber gab es viel Leben. Ich hatte eine Zeit lang (in den Ferien) sechs meiner Kinder beisammen – jetzt freilich ist der Kreis wieder sehr zusammengeschmolzen. Wie würde es mich freuen, könnte ich Sie ’mal in meinem kleinen aber gemüthlichen Häuschen sehen! dies Jahr hatten Sie mir wenig Hoffnung gegeben, aber im Nächsten doch ist vielleicht mehr Aussicht? leider komme ich nächsten Winter nicht nach Wien, da ich wahrscheinlich schon im Januar nach England gehe, aber im Uebernächsten hoffe ich sehr darauf. Schon fangen wir an zur Wanderung |5| zu rüsten, ich studiere fleißig und möchte nur, man könnte die Zeit je nach Bedarf ausdehnen, <ist> sie ist so kurz zum Lernen! wie Vieles nehme ich mir jeden Sommer vor, und wie Wenig habe ich erreicht wenn der Sommer vorüber! – Was mögen Sie wohl jetzt wieder Neues studieren? ach, könnte ich ’mal wieder eine Stunde so reinen Genusses feyern, wie sie mir in der Burg, und durch Sie ins besondere, so reichlich geworden sind! Sie glauben nicht, wie tief ich mich oft in jene Stunden versenken kann, jede einzelne Scene wieder in meiner Seele lebt, und fortleben wird durch alle Zeit!
|6| Nun muß ich Ihnen Adieu sagen. Haben Sie ’mal Zeit und wollen mich innigst erfreuen, so sagen Sie mir wieder ein Wort von Sich, lieber, verehrter Freund – von Ihnen ist mir Alles lieb zu hören, betreffe es Sie persönlich oder künstlerisch.
Marie erwiedert Ihren Gruß freundlichst und fügt ihren Glückwunsch bei, ich aber zeichne mich für alle Zeit
Ihre
von ganzem Herzen
ergeb
Clara Schumann.
Wir bleiben bis Mitte October hier, für den Winter ist meine Adresse immer: Düsseldorf am Rhein, bei Frl. Rosalie Leser.
|7| An die lieben Flatz11 meine Grüße – ich schreibe nächstens.

  Absender: Schumann, Clara, geb Wieck, Clara (3179)
  Absendeort: Baden-Baden
  Empfänger: Lewinsky, Josef (2591)
  Empfangsort:
  Schumann-Briefedition: Serie: II / Band: 4
Briefwechsel Clara Schumanns mit Maria und Richard Fellinger, Anna Franz geb. Wittgenstein, Max Kalbeck und anderen Korrespondenten in Österreich / Editionsleitung: Thomas Synofzik und Michael Heinemann / Herausgeber: Klaus Martin Kopitz, Anselm Eber und Thomas Synofzik / Dohr / Erschienen: 2020
ISBN: 978-3-86846-015-5
707ff

  Standort/Quelle:*) D-HVfmg, s: Rara/FMG Schumann,C.24
 
*) Die Auflösung der Kürzel für Bibliotheken und
Archive finden Sie hier: Online Directory of RISM Library Sigla
 
 



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