(Berlin N. W., Königsplatz 5, den)
Vevey d. 9t October 80
Verehrte Freundin!
Ob wir gleich noch in diesem Monat die Freude des Wiedersehens mit Ihnen erwarten dürfen, will ich doch nicht unterlassen Ihnen noch von hier aus einen herzlichen Gruß zu senden. Gewisse Orte machen das Herz weit und stimmen uns besonders dazu, entfernter Freunde zu gedenken, weil eine Art von geistiger Verwandtschaft sie mit einander verbindet. Byron gebrauchte einmal den Ausdruck über eine Frauenschönheit, dass sie „Musik von ihrem Antlitz haucht“; seine Freunde stritten dagegen, dass man von den sichtbaren Formen in diesem Gleichniß reden könne. Wer mit Innigkeit die Natur betrachtet, die uns hier umgibt, würde glaube ich, niemals streiten, dass gewaltige symphonische Musik das einzige Bild für die Weise ist, wie sie die Seele ergreift mit der harmonischen Verbindung des Hohen, Schroffen und Trotzigen und des Sanften, Innigen; in dem Gleichbleibenden, wie ein großes, wohlgefügtes u reiches Thema, neben der stetigen Variation in Licht u Luft, so dass auch die festen Formen zu wechseln scheinen. Ich gedenke mit herzlichem Vergnügen, dass wir gemeinschaftlich von ähnlicher Scheu auf dem Rigi oder in Interlaken entzückt worden sind u rechne es zu den Hoffnungen angenehmer Zukunft, dass wir uns wieder einmal in so holder u ergreifender Umgebung für einige Zeit zusammen finden, wo man gelöst für etliche Tage von den Sorgen u Lasten des Lebens und den Bildern von Gottes Allmacht den Geist erfüllt u das Herz befriedigt. Und mit dieser Hoffnung auf eine spätere Zukunft lassen Sie mich an die nächste denken u Ihnen, theure Freundin! ein auf frohes Wiedersehen! zurufen als Ihr
treu ergebener Lazarus
Die lieben Kinder bitte ich herzlich von mir zu grüßen.
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