Dresden, Amalienstrasse No. 8.
Am 21. October 1840.
Verehrtester Herr Doctor!
Werthester Freund!
Wo nicht aus anderen Nachrichten, mindestens doch durch die Zeitungen ist es Ewr. Wohlgeb. bekannt, daß Dresden, dem der Paulus sogleich das erstemal sehr gefallen, jetzt an eine zweite Aufführung gegangen ist, über die ich mir denn nach meiner Gewohnheit zu eigner Notiz dieß und das anmerkte. Nachher fiel mir ein, daß dieses sich auch schon zu einer Re¬lation an die musikalische Welt erweitern lassen dürfte, und diese schicke ich hiermit Ihnen zu, jedoch durchaus mich mit der Bitte begnügend, sie durchzulaufen und nachzusehen, ob etwa Excerpte daraus dienen könn¬ten; denn das Ganze ist jedenfalls zum Abdrucke zu lang. Wo nicht, so halte ich mich an des sel. Rectors Rost Sprichwort: satis sunt multa, satis sunt pauca, satis est unum, satis est nullum.
Das gestrige Concert des Raimund Nietzsche, das ich „nicht-sehenden“ Flötenspieler titulirt (kürzer pflegt man zu sagen: blind!) konnte ich nicht besuchen. Ihn „unterstützte“ wie der Ausdruck hier gewöhnlich ist, die kleine Butze |2| ihrem sehr fertigen, jedoch noch ziemlich charakterlosen Clavierspiele. Diese ist ein kleines butziges lusti¬ges Ding, deren Vater leider auf dem Sonnensteine unterhalten werden muß; geboren in Pirna etwa 1827. Ihrer nimmt sich hiesiger – aus Bres¬lau stammender – Herr Nas,welcher sich für einen grossen Geiger hält, auch einiges componirt hat, mit eine<r>m ihm zur Ehre gereichen¬den Eifer an.
Mit dem November beginnen die Hartung’schen Abonnements-Concerte, worauf die Musikfreunde sich sehr freuen. Schon sind dazu mehrere in Dresden (welches in dieser Hinsicht stets Leipzig blos nach¬hinkt) noch nie gehörte Symphonien angeschafft, z. E. die 3te von Kal¬liwoda, die Schubertische in D’, die Tittl’sche Jagdsymphonie; auch Beethovens 4te Ouverture zum Fidelio u. s. w. Hartung spart da weder Geld, noch Zeit und Mühe. Bis jetzt hat er 140 Abonnenten. Zu An¬fang des Novembers schmaussen meine Ohren auch jedes mal bei den Exsequien. Regelmässig werden an den 4 dazu bestimmten Tagen die Requiems von Seidelmann (das man nicht zu viel hören kann), von Galuppi und alle beide von Schürer gegeben, davon das grössere wirk¬lich ein höchst beachtenswürdiges Werk, ja in einzelnen Theilen von ei¬ner wahrhaft himmlischen Schönheit ist. Schürer gehört auch unter die Tonsetzer, deren Grösse der Welt viel zu wenig bekannt geworden ist. Das grosse Hasse’sche Requiem wird jetzt von der Capelle sichtlich hintan-gesetzt; warum, weiß ich nicht. Es steht, däucht mich, nicht unwürdig neben dem Mozartischen und in einigen Partien auch entschieden noch höher. Das |3| Naumannische ist gänzlich verschollen, und selbst die Requiems von Morlacchi, Micksch, Miltitz und Reissiger sind schon wieder halb vergessen, was besonders jenes von Micksch, theilweise auch die der beiden Capellmeister keineswegs verdienen. Mich däucht, gegen das werthlose kleinere Schürer’sche (in welchem blos das Ingemisco tan¬quam reus so trefflich ist, wie ich es kaum in irgend einem andern Requiem gehört) könnte man lieber noch weiter in die Jahrhunderte zurückgehen, und jenes, welches Meister Bernhard für Schütz gesetzt hat, ein wenig für unsere Zeit zurichten, vielleicht würde es mindestens diejenigen in¬teressiren, welche „Narren auf gute Musik“ sind.
Bei einer Zusammenrechnung der Orte, die ich alphabetisch mit Beischreibung der jetzt daselbst wohnenden Componisten verzeichnet habe, finde ich deren 266, mit etwa 1 400 mir namentlich bekannt gewor¬denen Tonsetzern. Für mich selbst hat dieses Verzeichniß viel Interesse und Brauchbarkeit; ob für Andere auch, wäre freilich eine Frage. Wien hat entschieden die meisten Componisten, gegen 140. Freilich aber habe ich blos Eybler, Seyffried und Weigl zweimal unterstrichen. Das wäre vor 50 Jahren anders gewesen! Indessen sind doch auch Gyrowetz, Witaseck, Payr, Preyer, Titl, Mosel u. s. w. ehrenwerthe Namen.
Doch, Verzeihung! ich gerathe zu sehr ins Plaudern.
Mit steter Hochachtung und alter Ergebenheit
Ihr
gehorsamer
Alb. Schiffner.